"Das Reckenfeld"

Aufgeschrieben von Heinrich Pottmeyer. Erschienen im Emsdettener Heimatblatt von 1922.

Reckenfeld! Der Name klingt romantisch, doch hat er mit den Recken, von deren kühnen Streiten das Nibelungenlied berichtet, unmittelbar nichts zu schaffen. Wohl aber wird die Heide - denn eine solche ist das ganze Reckenfeld ursprünglich - gleich ihnen so benannt sein um ihre beträchtliche Ausdehnung in der Länge, in der sie sich zwischen den Kirchdörfern Emsdetten und Greven hinzieht und reckt. Die Bahn Münster-Rheine führt beinahe eine ganze Wegesstunde hindurch, und der neue Haltepunkt Hembergen, der mitten darin liegt, wäre viel besser nach ihr benannt worden als nach dem ¾ Stunden davon an der Emse gelegenen Dörfchen, das nichts mit ihm gemein hat.

Gegenwärtig bietet sich dem, der mit der Eisenbahn durch das Reckenfeld fahrt, im großen Ganzen ein wechselvoller Anblick von Acker, Wiese und Wald. Das war zu meiner Kinderzeit ganz anders (1867-1876): Damals war das Reckenfeld eine stille, einsame Heide, die so gut wie gar keine Kultur aufzuweisen hatte. Nur vereinzelt oder gruppenweise kamen Zwergkiefern und Wacholdersträucher darin auf, birkenbestandene Wallhecken grenzten die Anteile der verschiedenen Besitzer ab. Sandwege mit tiefeingesunkenen Wagenspuren zogen sich hindurch und schlängelnde Fußpfade, umsäumt von Ginstergesträuch, dessen Blüten im Sommer goldig in die trübgetönte Landschaft leuchteten. Im Winter fegte der kalte Nordost ungehindert darüber und an hellen frostigen Tagen hörte man bei günstigem Winde von Stunden weit die Glocken der umliegenden Kirchdörfer, ja sogar die von Rheine. Sie waren in dieser weltfremden Einsamkeit wie Boten aus der weiten Welt, die nur selten solche dorthin sandte. Kein Wunder, dass wir ihren Klängen gerne lauschten, ebenso wie wir den Kranichen im Frühjahr und Herbst, wenn sie mit ihrem eintönigen "kru! kru!" durch die tiefblaue Luft über das einsame Heidegefilde zogen, sinnend nachstarrten, bis sie unseren Blicken entschwanden.

War es am Tage still und öde dort, so wurde es abends, wenn die Dunkelheit ihren schwarzen Mantel darüber gebreitet hatte, unheimlich in dem weiten Heideraume. Und das hatte noch seine besonderen Gründe. Dort, wo die Lichter der Kotten und Bauernhäuser blinkten, am Rande des Reckenfeldes, saßen die Leute am Herdfeuer und erzählten sich allerlei gruselige Sachen. Irgendwo in der Heide - den Fleck wusste freilich niemand - lag der Heidenkönig mit seinem goldenen Stabe (Zepter) begraben. Genau bekannt war aber die Stelle, wo die Grenze der Gemeinde Greven herlief. Und gerade jenseits derselben, an der Sipelhaar, bei dem Dikpool fand sich der "Heldenkirchhof", aus dem man von Zeit zu Zeit "steenene Pöttkes", Urnen mit Menschenasche und Knochenresten aufgrub. Aber davor grauste uns noch nicht so sehr als vor dem Mann ohne Kopf, der dort sein Unwesen trieb, und den Kerlen, die mit glühenden Schaufeln ("glainige Schofeln") den Boden aufwühlten. Diese Unholde, von denen wir im Dämmerlicht der Sommerabende, wenn die Fledermäuse durch die Luft flirrten, bei flimmerndem Mondenlicht oder an stürmischen Herbstabenden, wenn der Nordwest das Haus umtoste, beim flackernden Feuer hatten erzählen hören, jagten uns das Grauen auf den Leib, dass wir uns abends tief ins Bett verkrochen und nicht hervorzuschauen wagten. Am nächsten Morgen freilich, wenn alles wieder im hellen Tageslichte feste Formen angenommen hatte, war unsere Angst schnell verflogen und wir tummelten uns munter an den Plätzen umher, vor denen es uns nachts so sehr gegraut hatte.

Wie wir sehen, kehrt die Sage vom begrabenen Heidenkönig und seinem Goldschatze auch im Reckenfeld wieder, wenn man ihn auch hier nicht wie in der Hohen Ward unter dem Namen Goldemar kennt. Die anderen Spukgestalten sind dieselben, die fast regelmäßig dort auftauchen, wo von Grenzsteinversetzungen gemunkelt wird. Der Mann ohne Kopf hat seinen Ursprung in der altgermanischen Rechtspflege, nach der demjenigen, der demjenigen, der sich dieses Kapitalverbrechens schuldig machte, der Kopf abgepflügt wurde. "Wer einen Grenzstein versetzt", heißt es in Grimms Rechtsaltertümern, "dem soll der Hals mit dem Pflug abgefahren werden, indem man ihn in die Erde gräbt bis an den Kopf." Auch "de Kääls met de glainigen Schofeln", die an vielen Stellen des nördlichen Westfalens auftreten, sind Grenzfrevler, doch können wir ihren Ursprung nicht näher andeuten.

Nun ist die Grenze des Kirchspiels Greven hier wirklich um ein beträchtliches Stück gegen das Kirchspiel Emsdetten vorgerückt worden, und zwar noch in einem der letzten Jahrhunderte. Wo sie gegenwärtig nur wenig südlich von der ursprünglichen Hovesaat des Erbes Reckenfeld (Ksp. Emsdetten, Bschft. Hollingen) verläuft, folgte sie um die Mitte des 17. Jahrhunderts noch einer Linie, die dort, wo die Eisenbahn sie schneidet, etwa 2 Kilometer weiter nach Greven zu liegt. Dies geht klar hervor aus dem Schnadzug (Grenzbesichtigung), im Oktober 1653 von den Bevollmächtigten des münsterschen Domkapitels gehalten, rings um den Bezirk des letzterem unterstehenden Gogerichts Meest, das die Kirchspiele Greven, Nordwalde, Altenberge und Nienberge umfaßte. Nach dem davon übergebliebenen Berichte zogen die obengenannten Herren von dem Hof zu Lintelen (Schulzenhof Lintel) "vort längs der Heggen über die Linteler und Reckenfelder Heide vor Schwerings Kotten (Wesselschweer) her auf eine dove Landtwehr im gemelten Reckenfeldt und selbige Landwehr entlangs schradt durch das Reckenvelt auf den Michaelis Kotten." Diese "dove Landtwehr" (wohl ein Wall ohne Holzbestand) zieht sich jetzt noch als Fuhrweg im Vergleich zu den anderen Wegen diagonal (schradt) von dem bezeichneten Punkte bis zur Wirtschaft Micheel.

In der Nähe der Letztgenannten fand sich auch der Reckenfelder Baum - ein benachbarter Hof erhielt von ihm den Namen Reckenfelderbäumer - ein Schlagbaum, der im 17. Jahrhundert bei Kirchspielsfuhren der Emsdettener Bauern stets als Kirchspielsgrenze galt. Ein dreieckiger Zipfel des Reckenfeldes, der sicher mehr als tausend Morgen umfaßt, ist hier demnach von der Gemeinde Emsdetten abgetrennt und zur Gemeinde Greven gefügt worden. Wann und bei welcher Gelegenheit dies geschehen ist, konnte ich bisher nicht in Erfahrung bringen; nach Aussagen alter Leute soll dieser Teil der Emsdettener Mark "für ein Ei und einen Appel" (d.h. für eine ganz geringfügige Gegenleistung) an die Grevener Bauerschaft Herbern verkauft worden sein.

Wie sich die Sache auch zugetragen haben mag, der richtige Sachverhalt scheint rasch in Vergessenheit geraten zu sein, doch lebten dunkle Erinnerungen an den früheren Zustand fort. So erhob der Schulzenhof Lintel bei der Teilung des Grevener Anteils (1824-1826) Ansprüche als Mitberechtigter, da er Hudegerechtsame in demselben besäße. Tatsächlich bewies auch der damalige Schulze Friedrich Lintel durch Zeugenaussagen, dass zu seines Vaters Zeiten die Schafe regelmäßig einmal im Jahr bis Reckenfelderbäumer oder Micheels getrieben worden waren, ohne dass Einspruch von selten der Grevener Bauern erfolgt sei, und wenn es ihm mißlang, seine Ansprüche durchzusetzen, so war es nur darum, dass er für die Ausübung der Gerechtsame während des Zeitraums von 1800 bis 1809 den Beweis nicht beibringen konnte.

Bemerkenswert ist hierbei, dass die Schafe stets von Lintels Hof bis zum Reckenfelder Baum getrieben wurden, also an der ehemaligen Grenzscheidung der Kirchspiele Emsdetten und Greven entlang. Das zeigt, dass die Erinnerung an diese und an die früher in dem abgetretenen Teile ausgeübte Hude noch dunkel fortlebte, ohne dass man sich über den richtigen Sachverhalt Rechenschaft zu geben wußte. Merkwürdigerweise wurde dieser auch mit keinem Wort in dem Prozeß erwähnt. Dass sich dabei im Volke Sagen über Grenzsteinversetzungen ausbildeten und die Spuke dann pflichtschuldigst ihr Erscheinen machten, versteht sich in Westfalen von selbst.

Ein anderer unheimlicher Ort im Reckenfeld war ehedem der Galgenhügel ("dat Galligenhüewelten"), eine alte Richtstätte, die etwa einen km nordöstlich vom "Heidenkirchhof" liegt. Wie ich in meiner Jugend hörte, soll der "olle Beßvar" (Bestevader), Großvater von einem Bauernhöfe am Rande des Reckenfeldes nach eigener Aussage als Knabe mit anderen seines Alters, wenn sie dort die Schafe hüteten, zuweilen mit Steinen nach den Gehenkten geworfen haben. Das müßte, so gut ich nachrechnen kann, um 1790-1795 gewesen sein; demnach wäre dort um die Zeit noch gerichtet worden. Wie ich in dem Artikel "Die Schwartzen und die Schrägen" mitteilte, wurden die Überreste des Johann Heinrich Löw genannt Schwartze, der einer der Rädelsführer dieser berüchtigten Räuberbande war, am 15. Dezember 1754 auf dem Galgenhügel aufs Rad geflochten und sein Kopf darüber auf eine Stange gesteckt, nachdem seine Hinrichtung durch das Schwert am Tage vorher zu Münster vor dem Neutor stattgefunden hatte und seine Leiche auf einem Schlitten zum Reckenfeld gebracht worden war. Der Grund, warum gerade diese Stätte für die Nachexekution Schwartzes ausersehen wurde war, dass er in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar 1752 zusammen mit seinen Spießgesellen einen Raubanfall auf den Hof Konert in der Bauerschaft Austum ausgeführt hatte und ihm nur dieses Verbrechen im Hochstift Münster nachgewiesen werden konnte.

Das Reckenfeld hatte jedoch wohl schon seit unvordenklichen Zeiten als Richtstätte für die Gemeinde Emsdetten (und auch wohl Greven) gedient. Auf einer Karte der Bauerschaften Hollingen und Ahlintel vom Ende des 16. Jahrhunderts, die sich bei den Akten des Prozesses über die Zugehörigkeit der Bauerschaft Ahlintel zur Grafschaft Steinfurt befindet, ist die Richtstätte ziemlich richtig eingezeichnet. Auch geht aus den Akten dieses Prozesses hervor, daß zwei herrenlose Landsknechte Leonhard von Cassel und Hensgen Steinhauß von Koesfeld, die in Ahlintel auf dem Hofe Westert "Landzwingerei" (Raub) ausgeübt hatten und in Lütke Spanings (Lüttken Spalinges) d.i. Wilkens Leibzuchthause von den Ahlinteler Bauern gefangen worden waren, 1577 im Reckenfeld hingerichtet wurden. Endlich wurde 1596 Hensgen Reiners, einer der Mordgesellen, die bei Emsdetten die Frau des Kolons Recker umgebracht hatten, auf dem Gebiete des Gogerichts Meest eingefangen, nach Schöneflieth gebracht "und bei denen Reckenfelder bauren auf ein rhatt hingerichtet." Mit Letzteren können nur die Bauern der Grevener Bauerschaft Herbern gemeint sein, und demnach hätte das Reckenfeld ebenfalls als Richtstätte für die Gemeinde Greven gedient.

Zu jener Zeit war das Reckenfeld noch eine Gemeinheit, die als Schaftrift diente und infolgedessen öde und baumlos bleiben mußte. Nur 2 Verkehrswege zogen sich hindurch, der Münstersche Postdamm von Norden nach Süden und der Steinfurt-Ibbenbürener Postdamm von Westen nach Osten. Ersterer führte noch bei Zeiten meines Großvaters stellenweise im Ksp. Emsdetten den Namen "Hiälweg" (Hellweg) und kennzeichnet sich dadurch als eine uralte Landstraße. Römische Legionen und germanische Kriegerscharen mögen schon auf ihm einhergezogen sein, die Heere des Frankenkönigs Karl und Rosse, beritten vom Heerbanne des Sachsenherzogs Wittekind seinen Staub empor gewirbelt haben. Bemerkenswert ist immerhin, daß die Bauerschaft Herbern (Ksp. Greven), die das Reckenfeld südlich begrenzt und gegenwärtig einen beträchtlichen Teil desselben umschließt, im 9. oder 10. Jahrhundert Heribeddium hieß, was sehr wahrscheinlich Heerlager bedeutet.

Um diese Zeit oder etwas früher zog der Christenglaube ein in die Bauernhöfe, die inmitten ihrer Eichenwipfel das Reckenfeld rings umkränzten, die Turmspitzen christlicher Gotteshäuser begannen an seinem Rande emporzuragen. Und um die Kirchen siedelten sich nach und nach Leute in Dörfern an, Wechsel und Wandel gab es allenthalbes im Lande, doch das Reckenfeld blieb die öde Heide, wo die Schafe weideten und die Hirten, auf ihre "Schute" gestützt, träumend in die Weite blicken. Nur zu Kriegszeiten herrschte hier ab und zu wieder buntes, wechselvolles Leben: im 16. und 17. Jahrhundert, als die Holländer, die Spanier, die Landsknechte des tollen Christian von Braunschweig oder die Söldner des kaiserlichen Feldherrn Tilly von West nach Ost oder von Süd nach Nord über eine der beiden Landstraßen dahinzogen. Dann flammte es zuweilen rot auf am Rande der Heide; die wilden Kriegsscharen ließen das eine oder andere Gehöft in Flammen aufgehen, die Bewohner flohen, und im gutsherrlichen Heberegister fand sich im nächsten und oft noch für viele folgende Jahre anstatt des Korneinganges der kurze, aber vielsagende Vermerk "wüst" eingetragen. Doch kehrten ruhigere Zeiten wieder, und alles ging wiederum seinen allgewohnten Gang. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde das Reckenfeld durch den Max-Klemens-Kanal, der sich längs seines westlichen Randes zog, dem Weltverkehr einigermaßen näher gerückt, ohne daß dies auf sein Geschick weiteren Einfluß ausgeübt hätte.

Tief eingreifende Veränderungen brachte dem Reckenfelde erst die Markenteilung und der Bau der Strecke Münster-Emden der damaligen Westfälischen Eisenbahn (1854-1855) (Anmerkung: die Eisenbahn wurde 1856 in Betrieb genommen). Die Teilung des Grevener Anteils hatte bereits 1831 stattgefunden, während der dem Ksp. Emsdetten seit der Abtrennung des oben erwähnten Dreiecks verbliebene Anteil offenbar erst nach dem Bau der Eisenbahn zur Verteilung an die Mitberechtigten gelangt ist, die die Eisenbahn hier überall als Grenzscheide für verschiedenen Besitzteile diente. Als eine andere Grenzscheide benutzte man hier außer den Wegen auch noch eine alte Landwehr, die von der Südostspitze von Möllers Esch (Esch des Kolonas Möller, Bauerschaft Hollingen) in gerader Richtung auf den Hof Blomert (Dorfbauerschaft) zuläuft und vermutlich dieselbe ist, die 1533 als de "Landwer by Blomenberches Huis" vermeldet wird.

Die gründlichste Umwandlung hat wohl der nördlichste Zipfel des Reckenfeldes, von Natur aus sein dürrster und unfruchtbarster Teil, erfahren. Dort ist nach dem Aufschwunge Emsdettens als Fabrik- und Industrieort ein dicht bevölkerter Vorort emporgeblüht, schmucke Wohnungen, umgeben von wohlgepflegten Gärten, sind an die Stelle der eingeebneten dünenartigen Sandhügel getreten, und nur noch die volkstümliche Bezeichnung "de Biärge" erinnert an die ursprüngliche Bodenbeschaffenheit. Aber auch in anderen Teilen des Reckenfeldes, wo dieses sich dem Dorfe Emsdetten nähert, südlich vom Münsterkamp, sind m den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege die Wohnungen wie Pilze aus der Erde geschossen. Der Grevener Anteil dagegen, der zum Teil vorzüglichen Boden besitzt, wurde lange Zeit hauptsächlich zur Holzkultur benutzt, doch hat man auch dort, insbesondere seit der Anlage des Munitionsdepots, allenthalben angefangen zu roden, und in absehbarer Zeit wird das ganze Reckenfeld in Kulturland umgewandelt sein. Dann aber steht sein Name in Gefahr, der Vergessenheit anheimzufallen. Das ließe sich am leichtesten dadurch vermeiden, wenn der Haltepunkt zwischen Emsdetten und Greven seinen einzig richtigen Namen erhielte, nämlich: Reckenfeld.

Die Gemarkung Reckenfeld reichte zum einen bis an Emsdetten ...



... und dann auch noch bis an Nordwalde heran.


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